Wege nach Europa

Internationale Konferenz „Dialog verbindet, Solidarität stärkt“ Istanbul, 20-21. Januar 2007

Norman Paech

Ich möchte Ihnen einige Beobachtungen und Überlegungen vorstellen, die aus der Sicht eines Deutschen kommen, der grundsätzlich davon überzeugt ist, dass die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei letztendlich zu einem Beitritt führen müssen. Danach sieht es allerdings heute, gut ein Jahr, nachdem die Verhandlungen am 3. Oktober 2005 begonnen haben, gar nicht aus. Die Diskussion innerhalb der EU-Staaten ist zunehmend kritischer geworden und auch früher noch eindeutige Befürworter eines Beitritts der Türkei rücken immer mehr von ihrer Position ab. Aber auch in der Türkei sind jene Stimmen lauter geworden, die die erhofften Vorteile eines Beitritts in Frage stellen.

Der letzte Fortschrittsbericht der EU-Kommission bekräftigt zwar, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weiter führen zu wollen. Er bescheinigt der Türkei „Fortschritte“, doch sei die Türkei „noch nicht allen Verpflichtungen nachgekommen“ (Kommission, Brüssel, den 29. Nov. 2006). Dahinter stehen eine Vielzahl von Problemen, die je nach Aktualität und Anlass mit unterschiedlichem Gewicht mal hier und mal dort in den Vordergrund geschoben werden. Es ist eine Mischung von politischen, ökonomischen und ideologischen Bedenken, von denen ich hier einige ansprechen möchte.

Der jüngste Stolperstein, der die derzeitigen Verhandlungen ins Stocken, wenn nicht zu Fall bringen könnte, heißt Zypern. Kern der Kritik der Kommission ist das von der Türkei bislang nicht ratifizierte Abkommen von Ankara, welches mit der Ausdehnung der Zollunion auf die 10 neuen Beitrittsländer, unter ihnen Zypern, eine faktische Anerkennung der Republik Zypern enthält. Die bisherige Weigerung der Türkei, dies zu tun, ist verständlich – beansprucht der türkische Norden Zyperns doch, wenn nicht Unabhängigkeit, so zumindest eine Gleichstellung gegenüber dem griechischen Teil Zyperns.

Hier hat sich die Europäische Union nun aber selbst eine Falle gestellt, aus der sie mit Hilfe einseitiger Forderungen an die Türkei herauszukommen versucht. Die Union hatte den Beitritt der griechischen Republik Zyperns für den 1. Mai 2004 beschlossen, ohne die Volksabstimmung zur Vereinigung beider Inselteile abzuwarten, wie es der Plan des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Annan vorsah. Während der überwiegende Teil der türkischen Zyprier dem Plan der politischen Gleichstellung beider Volksgruppen zustimmte, verweigerten die Inselgriechen diesen ebenso deutlich. Die EU hatte sich jedoch vor der Volksabstimmung für die Aufnahme der Republik Zypern entschlossen – die nun als Mitglied der EU jegliche Kompromissvorschläge für die Lösung des Problems behindern und blockieren kann. Man kann darüber streiten, ob die Aufnahme der Republik Zypern in die EU schlicht fahrlässig war oder mit einem strategischen Kalkül getroffen wurde. Das Resultat können wir in dem Bericht der Kommission nachlesen: Verhandlungen mit der Türkei ja, aber entweder unter Ausschluss sämtlicher Kapitel, die das Problem Zypern berühren oder Verhandlungen in verlangsamtem Tempo mit der Aufforderung an die Türkei, sämtliche Häfen zu öffnen und die griechische Republik Zypern anzuerkennen.

Die Zypernfrage bedarf eine alle Seiten und vor allem die Bevölkerung befriedigende Lösung. Aber sie dient derzeit vor allem wohl auch jenen, die die Türkei aus ganz anderen Motiven nicht als Teil der EU sehen wollen, als ein offenbar willkommenes Argument, den Beitritt zusätzlich zu problematisieren. Die Zeitungen sind voll davon: Politiker, insbesondere der großen Volksparteien, versuchen uns zu überzeugen, dass die Türkei nicht zu Europa gehöre, weder kulturell noch politisch noch religiös. Unterstützung erhalten sie von einer Reihe renommierter Wissenschaftler und Historiker, die bescheinigen, der Türkei fehle es an jener „geistig-kulturellen Identität“, welche einen Staat erst im Kontext europäischer Werte demokratiefähig mache. Von ihnen wird jede Anstrengung der Türkei, die an sie gestellten Anforderungen für den Beitritt zu erfüllen, als rein formale Demokratisierung identifiziert, die von oben der Gesellschaft übergestülpt werde, der jedoch der Geist fehle, der eine demokratische Gesellschaft ausmache.

Den Kern dieses Vorwurfs der Demokratieunfähigkeit suchen sie in der unterschiedlichen Geschichte. In einem Satz zusammengefasst lautet er: Während jener Teil Europas, der zum historischen Okzident gehörte, seinen Säkularisierungsprozess über Jahrhunderte vollzogen hat, sei die Trennung geistlicher und weltlicher Gewalt in der Türkei erst im 20. Jahrhundert mit autoritären Mitteln erfolgt. Diese unleugbare historische Differenz muss also dazu herhalten, um den christlichen Staaten eine kulturelle Kompetenz zur Demokratie zu bescheinigen, sie aber der weitgehend islamisch geprägten Türkei abzusprechen. Zum einen baut diese Konstruktion auf der These auf, dass nur der Weg einer nachholenden europäischen Aufklärung zur Demokratie führe. Eine These, die ebenso platt wie falsch ist und zudem den eigenen aktuellen Bemühungen der NATO-Staaten widerspricht, die Demokratisierung der Welt notfalls mit Militär und Krieg herbeizuführen. Zum anderen wird auf diese Weise eine gemeinsame europäische Kultur suggeriert, die es so nie gegeben hat. Die Geschichte der einzelnen Mitgliedstaaten mag zwar über die gemeinsame christliche Identität sowie über die koloniale und imperiale Vergangenheit in ihren Kriegen gegeneinander wie in ihren Bündnissen enger miteinander verbunden sein als mit der Türkei. Für die Demokratie- und Integrationsfähigkeit lassen sich daraus allerdings für die Zukunft keine zuverlässigen Abgrenzungskriterien entwickeln.

Offensichtlich vergessen diese Vertreter einer historisch gewachsenen demokratischen Kultur, dass diese in den dreißiger Jahren in Deutschland vollkommen verloren ging und die Demokratie in Faschismus und Völkermord versank – trotz der europäischen Aufklärung. Ebenso muss man sich fragen, wie es möglich war, dass die Mitgliedstaaten Portugal und Spanien noch in den 1970er Jahren von katholischen Militärdiktaturen beherrscht wurden. Vergessen wird dann auch, dass das osmanische Reich die Koexistenz von Moslems, Juden und Christen garantieren konnte und die Türkei während des Nationalsozialismus deutschen Emigranten Zuflucht gewährte.

Nein, die Gründe der ablehnenden Haltung liegen wohl doch eher in der Vorstellung von Europa als einem christlichen Verbund, in den eine islamische Türkei nicht hinein gehört. Sie haben von den Bemühungen insbesondere christdemokratischer Politiker gehört, in die europäische Verfassung einen Bezug zum christlichen Gott hineinzunehmen. Ich kann nur sagen, Gott behüte uns vor einem derartigen Rückfall ins Mittelalter.

Zu dieser offensichtlich tiefsitzenden prinzipiellen anti-islamischen Haltung, die wir mit dem Begriff der Turkophobie bezeichnen, gesellen sich weitere Gründe, die sich gegen eine türkische Mitgliedschaft richten: Die Furcht vor millionenfacher Migration von Türkinnen und Türken in die anderen Mitgliedstaaten, die eine weitere Gefährdung der Arbeitsplätze der einheimischen Bevölkerung mit sich bringen könnte. Für die französische Regierung spielt zweifellos eine Rolle, dass die Türkei mit der zweitgrößten Bevölkerung in der EU dann ebenfalls in der Besetzung der europäischen Gremien vor Frankreich rangieren würde. Auch die direkte Nachbarschaft der EU mit der Konfliktregion Nahost, in die sie durch den Beitritt der Türkei hineingerät, spielt eine Rolle für die stärker werdende Distanz zu den Beitrittsplänen. Dieses sind nur einige der Argumente, die offensichtlich dazu dienen sollen, die Angst vor der Türkei als die Gemeinschaft gefährdendes Element zu schüren. Bei genauerer Betrachtung tragen diese Gründe nicht weit: weder aus Portugal, Spanien, Irland, Griechenland noch aus Polen sind nach dem Beitritt massenhaft Arbeitnehmer in die anderen Mitgliedstaaten immigriert. Auch werden die Auseinandersetzungen um den Krieg im Irak, den Atomstreit mit dem Iran oder den Palästina-Konflikt durch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht verschärft bzw. die EU-Staaten mehr in sie hineingezogen als bisher. Es mögen alles Phantasmagorien sein, aber ihnen wird ihnen wird in der politischen Diskussion ein reales Gewicht beigemessen.

Demgegenüber gibt es ganz zentrale Probleme, die meiner Ansicht nach Beachtung verdienen und die es gilt, bei der Haltung für oder gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU kritisch zu betrachten. Die Grenze der Integrationsfähigkeit Europas und die ökonomischen Risiken gehören ebenso dazu, wie die noch unleugbaren Demokratiedefizite und Menschenrechtsprobleme und nicht zuletzt das ungelöste Problem der Kurden. Ich will hier nur einige Fragen anschneiden, die insbesondere bei der Erfüllung der sog. Kopenhagener Kriterien eine entscheidende Rolle spielen werden.

Sie erinnern sich, es war lange umstritten, ob man dem Antrag der Türkei auf Aufnahme in die Zollunion stattgeben sollte. Die zentralen Bedenken lagen bei der unbestreitbar katastrophalen Menschenrechtsbilanz dieses Landes. Doch letzten Endes setzte sich die Hoffnung durch, Rechtsstaat und Demokratie in der Türkei besser innerhalb der EU als außerhalb erreichen zu können. Vor gut elf Jahren gab der stellvertretende Stabschef der türkischen Streitkräfte, General Ahmet Çörkçi, die wahrscheinlich in der Armee weitverbreitete Ansicht öffentlich wieder: „Wir werden den Terrorismus besiegen, aber Demokratie und Menschenrechte behindern uns dabei“ (1. 7. 1995). Seitdem hat sich in der Türkei viel verändert, aber ich bin mir nicht sicher, ob diese antidemokratische Sicht nicht noch immer in einflussreichen Kreisen der Politik und des Militärs vorherrscht.

Die Änderungen des Antiterrorgesetzes werden mit Sorge betrachtet. Sie beinhalten Einschränkungen der Presse- und Medienfreiheit und ermöglichen Publikationsverbote für Zeitschriften und Verhaftungen von verantwortlichen Redakteuren und Eigentümern. Die jüngsten Prozesse gegen prominente und weniger prominente Schriftsteller und Journalisten, lassen sich mit den Standards der europäischen Grundrechtsgarantien nicht vereinbaren.

Die Europäische Sozialcharta wurde zwar am 27. September vergangenen Jahres von der Türkei ratifiziert, gleichzeitig wurden aber Vorbehalte geltend gemacht, z.B. zum Vereinigungsrecht, zum Recht auf Kollektivverhandlungen, zu Mindestjahresurlaub und Arbeitsentgelt und zu angemessenen Lebensstandards. Das lässt von der Sozialcharta in den Kernbereichen der Arbeitnehmerrechte nicht mehr viel übrig und dürfte von den europäischen Staaten kaum akzeptiert werden. Noch hat die Türkei vier Zusatzprotokolle zur Europäischen Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert.

Während sich die Fragen der Integrationskraft und der ökonomischen Bedeutung nur schwer kalkulieren lassen und vor allem den Integrationswillen der EU voraussetzen, ist es meiner Auffassung nach in der Frage der Kurden und der demokratischen- und Menschenrechte die Türkei, die sich bewegen muss.

Bis heute ist das Leben der kurdischen Bevölkerung in der Türkei von Zerstörung, Vertreibung und Kriminalisierung geprägt. Die kurdische Kultur und Sprache wird faktisch immer noch nicht anerkannt. Die jetzt eingeräumte Möglichkeit, kurdische Sendungen in Rundfunk und Fernsehen zu bringen ist zwar ein Fortschritt, stellt aber noch lange keine befriedigende Berücksichtigung der kurdischen Sprache im öffentlichen Leben dar. Die türkische Verfassung schreibt in ihrer Präambel die „türkischen nationalen Interessen“, die „türkische Existenz“, den „Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk“ und „die geschichtlichen und ideellen Werte des Türkentums“ und des „Nationalismus“ fest. Sie leugnet damit die Existenz der zahlreichen anderen Ethnien und Kulturen in ihrem Land und verweigert damit konsequenterweise deren Anerkennung als ethnische Minderheiten und die sich daraus ableitenden Rechten.

Diese Politik steht in eindeutigem Widerspruch zum Recht auf Selbstbestimmung. Es hat seit seinem ersten Auftauchen in der Französischen Revolution einen langen Weg durch die Geschichte zurücklegen müssen, ehe es zum ersten Mal in Art. 1 Ziffer 2 und Art. 55 der UNO-Charta kodifiziert worden ist. Aber die ziemlich vage Erwähnung in unterschiedlichen Zusammenhängen ließen das Selbstbestimmungsrecht eher als Programmsatz denn als verpflichtendes Recht erscheinen. Dieses änderte sich erst mit dem Befreiungskampf der Völker gegen die überkommene Kolonialherrschaft: ihr juristischer Hebel war das Recht auf Selbstbestimmung.

Der entscheidende Schritt wurde am 14. Dezember 1960 getan, als die 15. UN-Generalversammlung die „Deklaration über die Unabhängigkeit der kolonialen Nationen und Völker“ mit der berühmten Resolution 1514 verabschiedete, in der es heißt: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Auf der Grundlage dieses Rechts bestimmen sie frei ihren politischen Status und verfolgen frei ihre ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung.“ Fünf Tage später, am 19. Dezember 1960, wurde diese Bestimmung an die Spitze der Artikel 1 beider Internationalen Pakte über die politischen und ökonomischen Rechte gestellt. Beide Pakte sind 1976 in Kraft getreten. Damit war das Selbstbestimmungsrecht nicht nur als kollektives Recht der Völker sondern auch als individuelles Menschenrecht anerkannt.

Das Recht auf Selbstbestimmung zielt auf die Wahrung der Identität des kurdischen Volkes und die Sicherung seiner Existenz in der Zukunft. Dieses muss alle bisher vorenthaltenen Rechte umfassen: die eigene Sprache, Erziehung, Ausbildung, Presse, Rundfunk, Fernsehen und Literatur. Die institutionelle Absicherung dieser Rechte durch soziale, politische wie finanzielle Förderung aber auch die ungehinderte Gründung und Tätigkeit kultureller, sozialer und politischer Organisationen muss gewährleistet werden. Darüber hinaus gilt es Finanzmittel für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur, Ortschaften, Wohnungen, landwirtschaftlicher, gewerblicher und wirtschaftlicher Einrichtungen bereit zu stellen. Den über 3 Millionen Flüchtlingen muss die Rückkehr in ihre Heimatregion ermöglicht werden.

Das Selbstbestimmungsrecht schließt auch politische Freiheit mit ein. Diese beinhaltet sowohl den Aufbau einer Selbstverwaltung als auch die gleichberechtigte Teilhabe an den politischen Prozessen des Gesamtstaates, die Gründung von politischen Organisationen, Parteien und Stiftungen sowie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Eine parlamentarische 10 % -Hürde für politische Parteien würde z.B. vor dem deutschen Verfassungsgericht keinen Bestand haben.

Die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung des kurdischen Volkes wäre ein Fortschritt nicht nur im Hinblick auf die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. Ich halte sie für das Kernproblem der türkischen Gesellschaft und entscheidend für die Zukunft einer politisch stabilen Türkei. Die kurdische Bewegung hat ihren Anspruch auf einen eigenen Staat aufgegeben und sich auf die Forderung nach Anerkennung der Identität und aller seiner Rechte in den Grenzen der Türkei beschränkt. Danach gibt es keinen politischen oder juristischen Grund mehr, ihr diese Rechte vorzuenthalten.

Viele kurdische Organisationen sehen in den Beitrittsverhandlungen die Chance, ihre Rechte endlich anerkannt zu bekommen. Und nimmt man die Kopenhagener Kriterien ernst, so ist diese Hoffnung berechtigt. Dies aber den Verhandlungsparteien allein zu überlassen, wird nicht reichen. Der Beitrittsprozess ist nicht nur eine Angelegenheit der beiderseitigen Verhandlungsdelegationen, sondern der Völker selber. Sie geht uns, Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Künstler und Künstlerinnen, Politiker und Politikerinnen gleichermaßen an, da sie unsere Zukunft mit bestimmt. Insbesondere sollte die Europäische Linke entsprechende Initiativen ergreifen, die darauf abzielen, die Frage der Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Kurdinnen und Kurden und anderen Minderheiten in den Mittelpunkt der Verhandlungen zu rücken. So wie wir uns um eine Europäische Verfassung bemühen, in der die Gebote der Solidarität und sozialen Rechte nicht durch die neoliberalen Diktate der Marktfreiheit und Konkurrenz verschüttet werden, sollten wir aktiv Partei für einen Erfolg der Beitrittsverhandlungen auf der gleichen Höhe der erkämpften Rechte ergreifen.

Hamburg, 14. Jan. 2007

Norman Paech